1
Apr
2015

FINIS

0071
Die Postkarte stammt (um dem Urheberschutz Rechnung zu tragen) aus dem Fundus von „Kulturrecycling.de“
Ich weiss nicht, ob sie noch zu haben ist. Ich habe sie vor langer Zeit erstanden.

Jetzt rettet sie mich elegant vor der selbst auferlegten Verpflichtung, meinen Blog weiter zu führen. Ein Jahr lang hab ich durch gehalten. Jetzt mag ich nicht mehr.
Das Format ist ein Korsett, in dem wir nicht Platz haben, Du nicht und ich nicht.
Wir werden ein anderes finden.

Manche Leute mögen keine Blogs. Es gäbe zu viele davon. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, derzeit vielleicht vierhundert Millionen weltweit? Es werden stetig mehr.

Blogs sind Massenware wie die Waren, die wir in Supermärkten kaufen wie die Wohnzellen, in denen wir hausen. Wir kommen massenhaft vor.

Aber wir legen wert darauf, einzigartig zu sein. Sich zu den Massen zu zählen gilt als ehrenrührig. Für uns ist nur das Beste gut genug.
Nichts Langweiligeres als der Alltag der Vielen oder „The Practice of Every Day Life.“

Nur – was eben jenes Beste, Erlesene, Ueberlegene sei, darüber herrscht unter den annähernd acht Milliarden oder so, die wir gerade (nach offizieller Lesart) hierarchiefrei und multikulturell nebeneinander existieren einige Verwirrung.
Kann nicht schaden, sich in der Wirklichkeit um zu sehn und derlei mit dem jeweiligen Ideal in Beziehung zu setzen.

„Social Anthropology“, so lautet meine Lieblingsdefinition für Anfänger im Fach „is the study of all people everywhere, what they make, what they do, what they think and how they organise their social relationships and societies.“ (Homepage der Universität Cambridge, Fachbereich Social Anthropology).

Vielleicht sind es gerade die trivialsten Blogger und Social Networker die den aufschlussreichsten Beitrag zu einem Gegenwarts-Archiv leisten, das mehr der kulturellen Praxis als dem schönen Ideal verpflichtet ist. Geheimdienste und Marktstrategen müssen nicht die einzigen sein, die davon profitieren.

Also nix gegen Blogger. „Jeder kann einen Blog schreiben“ ?
Gut so!

10
Mrz
2015

HIER UND JETZT

Eine rührende kleine Geschichte. Eigentlich handelt es sich um zwei Geschichten. Die eine spielt im September 2014, die andere im Januar 2015.
Aufgezeichnet hat sie der britische Guardian online. Wer mag kann sie dort nachlesen (guardian. uk, febr. 10. 2015, „We dream about drones..) Sie muss nicht erfunden sein, um wahr zu klingen.

Es handelt sich um eine Reportage, keine Dokumentation. Der Artikel ist illustriert durch einen kleinen Film, der spielende Kinder in der jemenitischen Wüste zeigt, aufgenommen vom dreizehnjährigen Mohammed, dem das Reporterteam eine Kamera in die Hand gedrückt hat. Er sollte seine Umgebung und seine Geschwister fotografieren.
Die Kinder sind Halbwaisen.
Mohammeds Vater ist zusammen mit einem seiner Brüder durch einen Kampfdrohnen Angriff ums Leben gekommen.

Mohammeds Familie ist gross - grösser als westliche Patchwork Familien zu sein pflegen. Der Vater hinterlässt drei Ehefrauen und siebenundzwanzig Kinder.

Mohammed erzählt den Reportern von ruhelosen Nächten, von seiner Angst, vom all gegenwärtigen Geräusch der Drohnen.

„Sie erzählen uns“ sagt der Knabe, „die Drohnen kämen von Militär Basen in Saudi Arabien und vom Meer vor der jemenitischen Küste, um Terroristen zu töten, aber sie töten immer wieder unschuldige Leute. Wir wissen nicht, warum sie uns töten.“
„In ihren Augen verdienen wir nicht so zu leben wie andere Menschen auf der Welt - als ob wir keine Gefühle hätten, nicht weinen würden, keinen Schmerz fühlen könnten.“
„…sie töten uns auf Verdacht hin, ohne zu zögern.“

Drei Monate später nimmt eine Kampfdrohne das Auto ins Visier, in dem Mohammed mit seinem Schwager unterwegs ist.
Eine dritte Person befindet sich im Auto.
Der Luftschlag ist präzis und erfolgreich. Das Auto geht in Flammen auf. Alle drei Insassen sind tot. Ein älterer Bruder begräbt sie neben dem Wagen.

Angenommen, diese exemplarische kleine Geschichte sei wahr, wer könnte es Mohammeds Geschwistern verdenken, dass der zweite Weltkrieg nicht das erste Stichwort ist, das ihnen in den Sinn kommt, wenn sie an Krieg denken - selbst dann nicht, wenn sie alle Barrieren überwunden, die Odyssee durch zahlreiche Flüchtlingslager überlebt, ein Aufnahmeverfahren bestanden haben, endlich im Westen angekommen und Mitglieder unserer „Wertegemeinschaft“ geworden sind.
Ihr Krieg ist jetzt.
Wenn sie sich auf die Suche nach Schuldigen und Opfern machen, könnten wir mit gefangen und mit gehangen sein, auch wenn wir, die wir doch aller Welt nur zur unserer Zivilisation verhelfen wollten noch so ungläubig darüber staunen, dass wir nicht so dankbar geliebt werden wie wir es verdienen.
Aber wir haben schon zu viele solcher Geschichten gelesen. Sie gehen unter im Nachrichten-Smog.

Was davon wahr ist und was nicht, was gut und was böse, wo die Helden sind und wo die Opfer - darüber wirst Du entscheiden müssen. Wir erhalten uns unser gutes Gewissen dadurch, dass wir über die Generationen vor uns Gericht halten.

4
Feb
2015

JANUAR 2015

001-2-Es hat doch noch geschneit. Dohlenschwärme stürzen sich aus den Bergen ins Tal an die Ufer des Sees, wo Kamelien, Magnolien und Mimosen längst dem Frühling entgegenträumen, wo der Boden nicht gefroren ist und die Hoffnung, Futter zu finden, nicht enttäuscht wird.
Dohlen sind schnell, sie rauschen durch die Luft, sie flattern und lärmen als wär’s ein Hitchcock Film.

Wir waten unten im Flotsch, oben schaufeln wir uns am Morgen den Weg frei.

Gute Nachrichten für die Tourismus Industrie? Nein. Der Gott der Wirtschaft hat die Schweizer am 15. Januar unversehens mit einer starken Währung geschlagen. Jetzt, sagt unsere Regierung, werden wir untergehn.
Wir sind zu teuer. Skifahrer fahren Ski in den Nachbarländern, niemand will unsere Waren kaufen, nicht einmal wir selbst. Schweizer kaufen jenseits der Grenze, wo es billiger ist.
Die Industrie, so geht die Prophezeiung, wird sich andere Standorte suchen, sie wird nicht mehr konkurrenzfähig sein, sie kann die hohen Löhne und die hohen Steuern nicht mehr zahlen. Wir werden arbeitslos sein.

Es sei denn, sagt die Regierung, wir würden den Gürtel enger schnallen. Wir würden mehr arbeiten für den gleichen Lohn oder kurz arbeiten für weniger Lohn.
Da wir Schweizer auch noch so schlecht beraten waren, in einer Volksabstimmung die EU zu verärgern und die Zuwanderung einschränken zu wollen, bleibt uns nur noch übrig, die Frauen und die Alten zu mobilisieren. Die Frauen verdienen gottlob sowieso weniger als die Männer im gleichen Job, die Alten länger zu beschäftigen, macht, sagt die Regierung, aber nur dann Sinn, wenn sie wegen fortgeschrittenen Alters weder mehr Lohn noch höhere Pensionen erwarten können.. Logisch.

Die Nachbarländer haben eine schwache Währung. Es heisst, auch ihnen drohe der Untergang, es sei denn, sie würden den Gürtel enger schnallen etc.

Der Gott der Wirtschaft wütet wo er will.
Wer nicht auf die Strasse geht, wird Fatalist und schickt sich drein.
Wer zornig ist und auf die Strasse geht, trifft auf die, die auch auf die Strasse gehen, aber irgendwie anders zornig sind.

Ist nicht mehr so leicht, ein netter Mensch zu sein. Nicht einmal ein guter Konsument.

Immerhin, wir haben die Wahl. Im ehemals wilden Ueberschwemmungsgebiet der Rhone entsteht auf über dem Sumpf künstlich aufgeschüttetem Terrain eine neue Agglomeration.
Dort stehn die Supermärkte Migros, Denner und Coop (Schweiz) in Konkurrenz zu Lidl und Aldi (deutsch). Und wenn wir über die Grenze fahren, kaufen wir Lebensmittel in Frankreich sowieso noch viel günstiger ein.

Egal ob hier oder da, es empfiehlt sich längst, das Extra Portemonnaie mit dem Kleingeld bereit zu halten für die, die sich, so eng sie den Gürtel auch schnallen, gar nix mehr kaufen können.

Zu erwähnen, dass die Börsenkurse steigen, wäre eine unverzeihliche Plattitude, die mit Kamelien und Mimosen nicht das Geringste zu schaffen hätte.

23
Nov
2014

ZEHN

016

Der zehnte Geburtstag. Deine Erwachsenen sind älter, Du bist erwachsener geworden. Es gab Zeiten und Kulturen, in denen zehnjährige Mädchen verheiratet wurden.

Deinen ersten Geburtstag haben wir glamourös gefeiert – in einem Schweizer Ski Resort. Deine Eltern hatten gute Jobs. Der Job Deiner Mutter hat den Aufenthalt im Hotel mit sich gebracht. Für sie war’s Arbeit und Luxus zugleich.

Die Kellner haben Dir den Geburtstagskuchen in der Halle serviert und Du hast unter allgemeiner Anteilnahme mit eigener Kraft die Kerze ausgeblasen. Dann bist Du mit Deinem neuen Plastik Tretrad um den Tisch gekurvt. Warst Du müde davon haben wir Dich abwechselnd durch die Gänge getragen, während die anderen Gäste sitzen blieben, um ihre Cocktails zu trinken.
Draussen war’s eisig, der Schnee lag hoch. In Deinem Zimmer flackerte der Kamin. Die Zukunft schien viel versprechend.
Das war vor der Wirtschaftskrise.

Inzwischen hat sich einiges verändert. Nennen wir’s „Neue Bescheidenheit“.
Nicht, dass es Dir nun schlecht ginge.
Aber die Zukunft ist kleinlaut geworden. Sie weiss nicht wohin.
Die damals so triumphal verkündeten westlichen Kriegserfolge in Afghanistan und im Irak haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Andere Kriege sind dazu gekommen.
Wenige sind reicher, viele sind ärmer geworden.
Massenproteste, Krisen und Konflikte entstehn, wo sie niemand zuvor vermutet hat.
Armut und Kriege bringen die Flüchtlinge auch nach Europa.
Tausende Häuser und Wohnungen sind gebaut worden. Aber die Mieten sind für die hoi polloi unerschwinglich.
Auf den Autobahnen stehn die Autos still und in den Zügen drängen sich die Menschen.

Von nun an wird Dir all das so „normal“ vorkommen wie die Mode der Zehner Jahre und die sozialen Netzwerke, Smartphones, Apps, Tablets und jene winzigen Supercomputer, von deren allgemeiner Verfügbarkeit sich noch an Deinem ersten Geburtstag kaum jemand eine Vorstellung machen konnte.
Und wenn Du je Vertrauen in „den Fortschritt“ haben solltest, dann vielleicht in eine stets fortschreitende technologische Verbesserung der Welt, seien es nun „alternative“ Energien oder Flugkörper, die wie Rosetta innerhalb Deiner ersten zehn Menschenjahre einen fernen Kometen ansteuern und erreichen konnten.

Mag sein, dass Du ganz andere Träume träumst.
Rollenvorbilder, Berufe, Religionen und Weltbilder scheinen für Dich zur Wahl zu stehn wie Waren. Wenn Du willst, heisst es, musst Du Dich nicht einmal mehr mit Deinem Geschlecht zufrieden geben. Alles geht.

In der Zwischenzeit allerdings versuchen Supermarkt und Werbung mehr denn je das Weibchen aus Dir heraus zu kitzeln.
Mehr Talmi und Flitter, mehr Süsse, mehr Feen und Prinzessinnen, mehr Popkultur, mehr Schminke, mehr Haut, mehr Hardcore und Wettbewerb war für Mädchen noch nie im Angebot.
Also wähle. Aber hast Du freie Wahl?

18
Sep
2014

RENTREE

006

Wir wissen, was gemeint ist. Aber mit einem Wort ist es nicht zu übersetzen.
Wir brauchen ein paar Umschreibungen, etwa so:

Der Sommer war lang. Die Ferien sind zu Ende. Schaufensterpuppen tragen Pullover. Buchhändler denken an Weihnachten.
Supermärkte und Kaufhäuser rücken Schulhefte und Farbstifte ins Blickfeld.
Die Parlamente tagen wieder. Die Theatersaison ist eröffnet. Sommer - Festivalfilme erreichen die Provinz- Kinos.
Am frühen Morgen sind Gras und Autoscheiben taufeucht, Wälder und Strassenplatanen verfärben sich, die Schatten werden länger, das Winterhalbjahr ist da.

Rentrée scolaire, Rentrée politique, Rentrée littéraire, Rentrée cinema….
Zäsur und Neuanfang. Schlagzeilen, Plakate und Werbebanner verkünden die Botschaft in der Romandie so unübersehbar wie in Frankreich.

Du lebst in Basel. Aber ein Neuanfang ist der Beginn des Winterhalbjahres auch für Dich. Du bist in die vierte Klasse gekommen. In Basel, sagst Du, sei es Brauch, dass die Viertklässler eine neue Schultasche bekämen. Von nun hättest Du grössere Lasten zu tragen. Glücklicherweise ist Dein Schulweg nicht all zu lang.
Du hast Dir einen violetten Rucksack mit Kreismuster (in pink) ausgesucht, eine diskrete Wahl, wenn ich bedenke wie viel Farben und wie viel Monster-, Comic-, Fauna- und Flora-Motive zur Auswahl stehn.

Ich seh mir inzwischen die Bücher in den Buchhandlungen an. In der Romandie ist die Kette Payot ein Delikatessenladen für Liebhaber von Gedrucktem. Laut Eigenwerbung glaubt Payot „an das Buch“.

Zugegeben: auch in der Romandie sind kleine Buchhandlungen verschwunden. Auch bei Payot wird mit Bestsellern Geld verdient. Nach und nach verschwinden auch hier Abteilungen mit Büchern, die selten verlangt werden.
Mag sein, dass Bücher sich demnächst ohnehin so verabschieden wie Steintafeln mit Keilschrift, Papyrosrollen oder Wiegendrucke.

Aber so lang sie noch da sind, ehren wir, wie immer, wenn Du kommst, rentrée scolaire und rentrée litteraire mit einem Besuch in der Payot- Filiale Vevey.
Empfehlungen brauchen wir nicht.
Wir lassen uns auch so dazu verleiten, zu kaufen, was wir nicht kaufen wollten.
Was in den Regalen zu finden ist, sieht zu verlockend aus.
Soll der Winter doch kommen.

002

11
Sep
2014

KARL OVE

Es geht das Gerücht, ein Schwede habe Feuer in der Abteilung K (wie Knausgaard) einer Buchhandlung in Malmö gelegt, mit der Begründung, Karl Ove Knausgaard sei der schlechteste Schriftsteller der Welt.

Leidenschaftliche Leser anderer Art wie die englische Autorin Zadie Smith aber seien der Lektüre seiner Bücher verfallen wie einer Droge.

In seinem 5 Millionen Einwohner zählenden Heimatland Norwegen soll er innerhalb von drei Jahren mehr als vierhundertfünzigtausend Exemplare seiner Trilogie verkauft haben. In 22 Sprachen ist sie übersetzt.

„Noch so ein Langweiler“ hat Dein Onkel gesagt, als er hörte, dass es um an die viertausend Seiten blanker bilderloser Druckerschwärze ohne besondere Handlung ginge und dass Vergleiche mit Proust gezogen wurden – eines zeitgenössischen Proust aus einer verlorenen Ecke Nordnorwegens allerdings, den es irgendwann nach Stockholm verschlagen hat, der seine Teebeutel im Supermarkt kauft und sich nur zu all zu oft vergeblich darum bemüht, simpel, nett und durchschnittlich zu sein. No sex, no crime, no plot.
Banaler Alltag zwischen Schreibpraxis, Einkaufen und Windelwechseln, Wut, Streit und Tränen, Versöhnung, Landschaften, Jahreszeiten, Kinderkriegen, Exkurse über Bücher, Filme, Popmusik, Museen, Norwegen, Schweden und ein Vatermonster.

„Min Kamp“ ist der provozierende Titel der norwegischen Originalausgabe.

Er habe irgendwann entdeckt, sagt Knausgaard, (der vor der „Min Kamp- Trilogie“ zwei in Norwegen erfolgreiche Romane publiziert hat) dass er Geschichten mit fiktiven Figuren und fiktiver Handlung satt habe, dass er selbst nur noch Essays und Tagebücher lese.
Und aus diesem seinem reality hunger ist eine Kreuzung aus Tagebuch, Autobiografie, Memoiren und Essay entstanden (und die literarische Sensation der Saison).
Literarische Genres, sagt Knausgaard, würden ihn wenig interessieren.
Die Form habe sich beim Schreiben von selbst ergeben.

Der nicht fiktive Held der nicht erfundenen Geschichte ist Karl Ove selbst. Und so wie der Held kein erfundener und kein unbedingt sympathischer ist, so sind auch alle Freunde und Familienmitglieder nicht erfunden, weder die toten, noch die lebenden. Jeder muss seinen eigenen Namen zu Markte tragen und keinem bleibt erspart, sich - in seine Widersprüche verstrickt - vorgeführt zu finden.

Aber es sind eben jene Widersprüche zwischen Ideal und Praxis, die die Lektüre so anziehend machen. Such is life ist das banale Fazit: das also ist das ganze Leben jenseits von Pathos und Ideologie. Schau hin. Alles ist schon da: Scham- und Schuldgefühl, Magie, Frust und Euphorie, Anfang und Ende. Als Schauplatz taugt jeder Supermarkt, jeder Wohnblock. Jeder Handgriff, auch der alltäglichste und banalste ist der Beschreibung wert. Jeder dreckige Schneerest im März ist ein Ereignis und jedes Minenspiel im Gesicht der anderen ein Mirakel.
Nichts davon ist gut oder schlecht. Es existiert einfach, mehr nicht.

Mir geht’s wie anderen. Ich kann nicht aufhören zu lesen.
Nix geht mehr ohne Karl Ove. Du wirst das Exemplar der Wahl (ich bin erst mitten im zweiten Band der englischen Uebersetzung) auf dem Schreibtisch, neben dem Bett, im Garten oder - obwohl Du mir kaum Zeit zum Lesen lassen wirst - in diversen Taschen und back packs vorfinden (gedacht für Zugfahrten, gedacht für Notfälle).

Vielleicht sagst Du später: was für ein Schrott. So was hat sich damals verkauft?

Aber lass mehr Zeit vergehn und nimm an, Karl Oves Trilogie hätte sich per Zufall in eines der folgenden Jahrhunderte gerettet. Kein Ethnologe hätte eine bessere Vorstellung davon geben können, wie sich’s in einem bestimmten europäischen Milieu eben hier, eben jetzt lebt.

Kein Grund, heroische Taten und heroische Zeiten herbei zu sehnen. Ist alles schon da.

4
Sep
2014

VOKABELN LERNEN

007

Es klingt so sensationell als spazierten wir geradewegs in einen Film über den August 1914.

DAS IST KRIEG: EUROPAS KRIEG! titelt die deutsche Zeit Online am 28. August 2014 nachmittags.

Seit ich dieses Tagebuch begonnen habe (das war am 6. März 2014) ist so mancher Konflikt zum Krieg geworden. Zuerst haben wir uns an die Bilder gewöhnt, dann an die Sprache.

A great war has arrived at our doorstep – the likes of which Europe has not seen since World War Two“ sagt der Ukrainische Verteidigungsminister Valeriy Heletey Ende August via Facebook (s. BBC Online 2. September 2014)

Noch vor ein, zwei Jahren war die Ukraine Reiseland. Es gab unter unseren Freunden einige, die dort Flussfahrten unternommen, frisch renovierte Klöster besichtigt und über realsozialistischen Wohnungsbau gelästert haben. Man war neugierig auf die Ukraine wie auf Prag oder St. Petersburg. Der Wortschatz der Reiseführer schien ausreichend.

Inzwischen hat die Ukraine unseren Wortschatz erweitert: Revolution, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten, Krieg, Kriegssteuer, Kriegsrecht, Kriegsverbrechen, Front, Frontverlauf, Raketen, Bomben, Waffenlieferungen und wir haben angefangen, die Toten zu zählen.

Wir haben das Land von der Reiseliste gestrichen wie andere Länder zuvor.

Das Kriegsvokabular hat den Frieden erobert.
Und da „der Westen“ derzeit geostrategisch gesehn an vielen Fronten zugleich kämpft, lernen wir jeden Tag dazu.

The Point of No Return sei nahe. Aussergewöhnliche Massnahmen seien zu ergreifen. „Wir“ müssten aufrüsten, den Anderen die Grenzen zeigen, Manöver durchführen, den Bündnisfall in Erinnerung rufen, Räume halten, Territorien sichern, verlorene Gebiete zurück gewinnen

Um Hilfe zu leisten, müssen wir nun an verschiedenen Ecken der Welt nicht nur Luftangriffe fliegen wie in Libyen oder in Somalia, sondern den Verbündeten (obwohl täglich neue Verwirrung darüber entsteht, wer wo zu den Verbündeten zählt und wer wo zu den Feinden) Schützenhilfe schicken:
Gewehre, Pistolen, Maschinengewehre, Panzerfäuste, Panzerabwehrraketenwerfer mit Geschossen, Handgranaten, ballistische Schutzbrillen…
An die Kurden im Irak zum Beispiel (als kenne das Volk der Kurden weder Parteien noch Interessen). Auch für die Kurden im Irak soll Beweglichkeit und Verteidigungsfähigkeit gewährleistet werden.
(s. Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 1. September 2014)

Not und Bedrohung seien dort so gross, dass nur Waffen helfen könnten (obwohl die Rangliste der Schauplätze grösster Not, grösster Bedrohung und grösster Grausamkeiten) in immer kürzeren Abständen aktualisiert wird.

Du hast versprochen, nächstes Mal Deine Französischbücher und Französischhefte mitzubringen. Lass uns Merkzettel besorgen (die kleinen bunten mit dem Kleberand) und Vokabeln an Tisch, Bleistift und Zahnbürsten heften, damit wir nicht vergessen, was wirklich zählt. Wir werden wieder an den See gehn und versuchen, uns die Namen der Bäume zu merken. Wie im Sommer.

26
Aug
2014

DENKANSTOSS

Die Stadt weiss ich auswendig oder ich bilde mir ein, sie so gut zu kennen, dass ich vertraute Wege mit verbundenen Augen gehen könnte. Wir haben sehr lange dort gewohnt und bis zu Deinem vierten Lebensjahr hast Du uns da besucht.

Ich war ein paar Jahre lang nicht in der Stadt, obwohl die Entfernung nicht ausserordentlich gross ist. Aber man muss den Röstigraben überqueren, jene sagenhafte Grenze zwischen der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz. Wozu zurück ins Altbekannte, wenn es so viel Neues zu entdecken gab.

Neulich hat sich ein Besuch ganz spontan ergeben. Zwei halbe Tage – nicht mehr. Keine Zeit für Reminiszenzen oder Nostalgien. Keine für eine ausführliche Analyse dessen, was geblieben ist oder was sich verändert hat.

Aber der Hafenkran war unübersehbar. Keine Ueberraschung. Nachrichten darüber haben auch die Romandie erreicht.
Der alt gediente seit 1963 real existierende DDR Hafenkran stammt aus Rostock, wo seine Dienste irgendwann nicht mehr gefragt waren. Er ist rostig, veraltet, nicht mehr zu gebrauchen.

Jetzt steht er hafenlos und gut gesichert in der Zürcher Altstadt und soll uns zu denken geben. Er ist ein Kunstprojekt geworden. Das macht sich breit und ist so hoch, dass die Jahrhunderte alten Häuser und Kirchen nah der Limmat wie Zwerge aussehn und der Fluss wie ein Rinnsal.

In die Zukunft verweist er nicht.

Er soll uns an die Vergangenheit erinnern - nicht die von Rostock, sondern die von Zürich, das einmal eine Hafenstadt hätte sein können, wäre es gelungen, Pläne zu realisieren, Zürcher Wasserwege mit dem Rhein zu verbinden, wodurch Zürich dann direkten Anschluss an die Weltmeere gefunden hätte.

„Hätte, hätte – Fahrradkette.“
Gedankenspiele dieser Art stammen aus der Zeit zwischen 1915 und 1918 und wurden bald ad acta gelegt.

Im Rathauscafé zu Füssen des Krans denke ich bei einem Espresso pflichtschuldigst darüber nach. Es steht in den Zeitungen und in Wikipedia, dass man das tun sollte. Auch warum ein Nebelhorn und fünf alte Poller zur Installation gehören. Das Projekt deklariert sich als Denkanstoss.

In den Medien und in Wikipedia werde ich auch darüber belehrt, dass es sich um ein „Readymade“ handelt, einen Gegenstand, der - aus seinem ursprünglichen Sinn Zusammenhang gerissen und neu installiert – zu einem Kunstwerk wird.
Die Stadt hat sich das mehr kosten lassen als Marcel Duchamp, der „Vater“ der Readymades seinerzeit die seinen.
Man ist reich. Man kann es sich leisten.

Die Chance, nachfolgende Archäologen darüber rätseln zu lassen, wie ein gigantischer Hafenkran aus Rostock an die kleine Limmat gekommen ist, hat sich die Stadt vergeben. Das Projekt heisst Transit Maritim und soll 2015 de-installiert werden.

Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer hat die auf andere Himmelsrichtungen fixierte Zürcher Jugendbewegung der Neunzehnhundertachtziger Jahre gefordert.
Bei der Rückkehr aus der Stadt bin ich froh, zu entdecken, dass sie noch vorhanden sind, die Alpen. Ungerührt stehn sie da und denken sich gar nix.
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